Erinnerungstafel für Julie Kähler (1888-1957), Küsterin in der Zeit des Nationalsozialismus
Nach dem Gottesdienst am Reformationstag, dem 31. Oktober 2018, wurde zwischen der St. Severi Kirche und der Alten Lateinschule in Otterndorf eine Erinnerungstafel enthüllt, die an das Leben von Julie Kähler erinnert. Julie Kähler war von 1941 bis 1947 in Nachfolge ihres Mannes die Küsterin von St. Severi. Sie fand hier im Bereich des Kirchplatzes eine Schutzzone vor der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten.
Ursula Holthausen hat Nachforschungen über das Leben Julie Kählers angestellt und die Daten für die Erinnerungstafel zusammengestellt:
Julie Kähler, Otterndorfer Bürgerin mit Hamburger Wurzeln, wurde am 4.2.1888 als Tochter jüdischer Eltern in Hamburg geboren. Während des Dritten Reiches verlor sie vier der fünf Geschwister in den Konzentrationslagern der Nazis.
Ihr Ehemann Johann Kähler, der an den schweren Folgen einer Hirnverletzung durch den Einsatz an der Westfront im 1. Weltkrieg litt, wurde immer wieder gedrängt, sich von seiner jüdischen Frau zu trennen, aber er lehnte es ab. Außer ihrem Mann stand Julie Kähler ihren sechs Kindern stets zur Seite, konnte ihnen aber ein Leben ohne Repressalien bis hin zu Inhaftierungen mit Frondiensten in Arbeitslagern nicht ebnen.
Julie Kähler, die vom Nazi-Regime unter dem Zwangsnamen Sara geführt wurde, konnte dank des Einsatzes der St. Severi-Kirchengemeinde, insbesondere der Frau des damaligen Superintendenten Bosse, und eines Arbeitskollegen ihres Mannes überleben. Sie wurde vor der drohenden Deportation bewahrt. Nach einem Beschluss des Kirchenvorstands übernahm sie im August 1941 das Küsteramt ihres Mannes, der körperlich dazu nicht mehr in der Lage war, und übte dies bis 1947 aus.
Nachdem am 6. Januar 1940 das Haus der Familie Kähler in der Stader Straße aus ungeklärter Ursache abgebrannt war, fand die Familie Zuflucht in der Lateinschule. Von nun an beschränkte sich der Bewegungsradius der Julie Kähler kaum über den Bereich von Lateinschule und Kirche hinaus. Die Angst um das eigene und das Leben ihres Mannes sowie der Kinder war ihr ständiger Begleiter.
Julie Kähler verlor ihren ältesten Sohn bei einem gefährlichen Einsatz an der Front. Dreimal wurde ihr Mann Johann inhaftiert. Vor dem Verbot seiner Partei bekleidete dieser in Otterndorf den Vorsitz des SPD-Ortsvereins Otterndorf. Auch wenn dessen Inhaftierung jeweils nach einigen Wochen endete, nährte es Julie Kählers Ängste zusätzlich. Zwei ihrer Söhne hatten Frondienste in den Zwangsarbeiterlagern Lenne bei Hildesheim und Zerbst zu leisten.
Von jahrelang erlittenen Demütigungen gesundheitlich stark belastet, wandte Julie Kähler sich im Dezember 1948 mit einem Antrag auf Gewährung von Sonderhilfe für Verfolgte der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft an das Sozialamt des Landkreises Hadeln in Otterndorf, zunächst ohne positives Ergebnis. Im November 1956 dann ein weiterer Versuch: Diesmal richtete sie ihren Antrag nach dem Bundesergänzungsgesetz zur Entschädigung der Opfer nationalsozialistischer Verfolgung an den Regierungspräsidenten in Stade. Ihr Gesuch beschäftigte die Justiz. Das Urteil – die endgültige Ablehnung – erging am 18.12.1957. Es blieb Julie Kähler erspart, denn sie war drei Wochen zuvor an ihrem qualvollen Leiden in einer Klinik in Hamburg-Eppendorf gestorben.
Bei der Betrachtung der Gerichtsentscheidung gegen das Entschädigungsgesuch Julie Kählers bleibt zu berücksichtigen, dass in den Gerichten der Nachkriegszeit in Deutschland noch lange Zeit Recht gesprochen wurde von Richtern, die schon in Nazi-Deutschland für das damals geltende Recht einstanden.